AutorenInterview Jürgen Heller

Wie lautet das Thema, das du bearbeitet hast?

Insgesamt habe ich fünf Themenbereiche bearbeitet.

  1. Flucht und Vertreibung aus dem Osten
  2. Ostpreußen – Flucht über das Eis und das Meer der Ostsee
  3. Die Vertreibung aus dem Sudetenland
  4. „Wilde Vertreibungen“ und staatliche Pläne: Beispiele Polen und Tschechoslowakei
  5. Der ehemalige deutsche Osten in einem offenen Europa.

Wie bist du an das Thema herangegangen?

Ausgangspunkt meiner Überlegung war die Frage: “Was hat das Thema Flucht und Vertreibung mit mir zu tun und welche Bedeutung hat es für die heutige Schülergeneration?” Hinzu kam die Spurensuche in meiner eigenen Familie und die Verknüpfung des Themas mit der Zeitgeschichte. Während mein Vater in Kriegsgefangenschaft war, befand sich meine Familie auf der Flucht aus dem Sudetenland. Zum Glück sind alle Fluchtdokumente und Fluchtobjekte erhalten geblieben, sodass ich den Verlauf der Flucht und die Ankunft in der neuen Heimat in Hessen sehr gut rekonstruieren und dokumentieren konnte.

Daneben habe ich mich intensiv mit zur Verfügung stehender Literatur und Medien beschäftigt. Auch die sehr umfangreiche Bibliothek und das Archiv des Landesverbandes Hessen in Wiesbaden waren bei der Recherchearbeit äußerst hilfreich.

Eine wichtige Rolle spielte die Verbindung mit den Themen Krieg, Nationalsozialismus und Shoa, ohne die eine Bearbeitung dieses Themas für mich nicht möglich ist. Hilfreich waren  Besuche mit meinen Schülerinnen und Schülern in Gedenkstätten in Buchenwald, Theresienstadt, Lidice und Struthof (Elsass).

Die Frage ‘Was hat das Thema mit mir und mit heute zu tun?’ konnte ich im Unterricht durch viele erzählte Fluchtgeschichten meiner Schülerinnen und Schüler aus Syrien, Marokko, Äthiopien, Iran, etc. aufgreifen und Verbindungen herstellen.

So sind viele Bilder in meinem Kopf entstanden, die mich auch heute noch emotional stark berühren: Seien es die erhobene Hände eines jüdischen Jungen im Warschauer Ghetto, die von Kinderhänden gezogenen Leiterwagen auf der Flucht im Sudetenland, die tätowierten Unterarme von Kindern im KZ Buchenwald oder der tote syrische Junge Alan Kurdi (2) an einem Strand in der Türkei 2015 auf der Flucht über das Mittelmeer.

Schildere eine besondere Stelle/die Stelle, die dir besonders wichtig war.

Es gibt sehr viele Stellen, die ich bei der Recherche und Spurensuche besonders wichtig fand und die mich berührt haben.

Es sind vor allem die authentischen Augenzeugen, die das Geschehene eindrucksvoll belegen. Genannt seien hier die Flucht vor der Roten Armee über das zugefrorene Haff der Ostsee, der Untergang der Gustloff mit fast 10.000 Toten, die irrtümliche Bombardierung eines Flüchtlingsschiffes mit KZ-Häftlingen durch englische Bomber oder die Berichte über die brutale und wilde Vertreibung der Menschen aus ihren Wohnungen innerhalb von nur wenigen Minuten in Polen und der Tschechoslowakei.

Besondere Bedeutung für mich haben in diesem Zusammenhang mehrere Originaldokumente. Eines stammt vom Hessischen Hauptstaatsarchiv in Darmstadt: Hierin wird mir von amtlicher Seite namentlich bestätigt, dass sich meine Mutter, meine Großmutter und meine beiden Brüder 1946 auf einem Flüchtlingstransport Richtung Westen befunden haben. Weitere Dokumente sind u. a. ein Papierschnitzel eines Carepaketes aus den USA, Briefe meines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft und die Original-Suchmeldung des Roten Kreuzes in Genf nach dem Verbleib der Familie nach der Flucht.

Was ist dir schwer, was ist dir leicht gefallen?

Als ehemaliger Lehrer an einer Integrierten Gesamtschule habe ich mich schon sehr lange in verschiedenen Projekten mit diesem Themenkomplex beschäftigt, sodass mir der inhaltliche  Zugang relativ leicht gefallen ist. Zudem habe ich mich in zwei Publikationen intensiv mit der NS-Zeit, Shoa und Flucht und Vertreibung in meiner Heimat Wiesbaden auseinandergesetzt. Die emotionale Beschäftigung mit diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte ist mir jedoch durchweg sehr schwer gefallen.

Wie war die Arbeit im Team?

Die Arbeit im Team kann ich nur als sehr kooperativ, hilfsbereit und offen bewerten. Dazu haben die regelmäßigen Videokonferenzen beigetragen. Viel zu verdanken habe ich meinem Projektleiter Lukas Epperlein, der mich vor allem bei der digitalen Umsetzung – auch bei meinem Besuch in Leipzig – kompetent beraten hat und mir jederzeit hilfreich zur Seite stand.

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