verfasst von Johannes Grapentin, Florian Sochatzy und Marcus Ventzke, englische Version hier
Wozu haben wir heute noch Schulen? Und welche Funktion geben wir ihnen? Zunehmend erscheinen Schulen in der Gegenwart wie die altertümlichen und weltfremden Einrichtungen einer anderen Epoche — nach kaum mehr nachvollziehbaren Regeln geführt und mit wenig Bezug zum Leben der Gegenwart. Die öffentlichen Schulen der Gegenwart sind Bauwerke, daher an bestimmten Orten lokalisiert und Teil einer regionalen und überregionalen Verwaltung. Sie sind zudem nicht selten personell unterbesetzt und baulich marode. Gegen Bildungsungerechtigkeit sind sie scheinbar machtlos und der Kern ihrer Tätigkeit scheint immer noch oft das Auswendiglernen lebloser Informationspartikel zu sein.
Diese zeitlichen, räumlichen, organisatorischen, personellen und nicht zuletzt inhaltlich-didaktischen Strukturen des gegenwärtigen Bildungssystems sind für moderne Bildungsziele überwiegend ungeeignet, da sie immer noch darauf zielen, dass alle Lerner in vorgegebenen Zeiteinheiten dasselbe lernen und nach einheitlichen Maßstäben beurteilt werden. Noch immer prägt nicht das Begreifen, Erfahren, Verstehen und Abstrahieren die Lernbiografie der SchülerInnen, sondern das Memorieren eines bestehenden Fakten- und Wissenskanons. Am Übergang zur digitalisierten Welt steht unsere Gesellschaft jedoch vor völlig andersartigen Herausforderungen, und folglich muss auch Bildung unter veränderten Vorzeichen gedacht werden.
Wir benötigen
- lebensnahe, auf die Herausforderungsfelder der Gegenwart und Zukunft bezogene Lerngegenstände,
- individuelle Lernwege, die zu flexiblen, interessens‑, sach- und lernstandsbezogenen Gruppenbildungen führen
- problemlösungsorientierte Lernszenarien, die bisherige Erarbeituns- und Verarbeitungskonventionen überschreiten,
- eine umfassende, themen- und medienbasierte Persönlichkeitsbildung, die es ermöglicht, soziale Kompetenz, ästhetisches Bewusstsein und emotionales Verantwortungsgefühl auszuprägen.
Wenn in der Gegenwart Bildung als die wichtigste Ressource für die Entwicklung eines modernen Gemeinwesens beschrieben wird, so ist damit die bestmögliche individuelle Entfaltung menschlicher Potentiale gemeint; nicht mehr aber die Implementierung und Abrufbarkeit möglichst ähnlicher oder gar gleicher Fertigkeiten bestimmter Gruppen.
Moderne Bildung richtet sich auf
- die Entwicklung von Kreativität und Handlungsfähigkeit in unbekannten Situationen,
- Möglichkeiten persönlicher Formung, Verwirklichung und ‘Neuerfindung’ in einer sich ständig verändernden Welt.
Moderne Bildung erfordert daher die Entwicklung von variablen Problemlösungskompetenzen möglichst vieler Lerner, die sich als vernetzte Kreative verstehen und sie fördert deshalb die Fähigkeit jedes Einzelnen,
- sich von Vorfindlichem distanzieren,
- es kritisch analysieren,
- bekannte Handlungsmuster und Wissensbestände neu gruppieren und
- Fehlstellen durch Neuschöpfungen ausfüllen zu können.
Schule in virtueller Realität (VR-School) als potentieller Bildungserneuerer
Die technische Entwicklung im Bereich der virtuellen Realität (VR) ist bereits heute so weit gediehen, dass immersive Settings möglich sind. Fallende Anschaffungskosten für Hardware-Ausstattungen und eine stetig wachsende Auswahl an verfügbaren VR-Erlebniswelten stoßen derzeit die Tür zu einem Massenmarkt für virtuelle Realität weit auf. Augmented und Virtual Reality verlassen damit die Sphäre wissenschaftlicher Testlabore und medialer Modellprojekte. Sie werden in Kürze zur Alltagskultur gehören. Folglich erhebt sich die Frage, inwieweit VR auch elementarer Bestandteil von Bildungsvorgängen werden kann . Auf Grundlage der rasanten technischen Entwicklung lassen sich nun Lernräume denken und umsetzen, die zunächst schulergänzend und in einem nächsten Schritt schulersetzend sein könnten. Die großen Tech-Unternehmen arbeiten wohl an Möglichkeiten, den Bildungsmarkt mit Hilfe der AR/VR-Technik umzuwälzen – und das global. Aus diesem Grund ist es heute zwingend erforderlich, sich auf eine derartige Schule in virtueller Realität auf theoretischer Ebene, aber auch auf Grundlage praktisch-empirischer Erfahrungen, vorzubereiten.
Das Institut für digitales Lernen hat zu diesem Zweck eine Tochterfirma, die Digitale Lernwelten GmbH (DLW) gegründet, um sich dieser Aufgabe zu verschreiben. Im folgenden finden sich die theoretischen Grundlagen einer derartigen Schule, eine Konzeption für eine praktische Umsetzung ist bereits in Arbeit.
Die im Institut für digitales Lernen unter dem Projekttitel “We Are School” entwickelte Schule in virtuelle Realität soll die Basis unterschiedlicher Lernräume sein, die, unabhängig von materiell-räumlichen Gegebenheiten, ein Erkenntnisumfeld für Lernende und Lehrumfeld für Unterrichtende bereitstellt.
Alle folgenden Forderungen müssen sich jederzeit einer theoretischen, empirischen und praktischen Hinterfragung jederzeit stellen.
- Die Schule in virtueller Realität basiert lerntheoretisch auf dem Konstruktivismus und möchte die Interdependenzen von äußeren Rahmenbedingungen und inneren Gestaltungsprozessen von Schule und Lernen in der digitalen Welt neu bestimmen. Sie bietet die Möglichkeit zur Entwicklung digitalen Neuwerts.
- Lernen wird verstanden als inklusive Suche nach Lösungen. Der Zugriff auf Informationen ist dabei eine notwendige Bedingung unterrichtlicher Arbeit, nicht ihr Ziel.
- Die 21-century-skills (Kreativität, Kommunikation, Kollaboration und kritisches Denken) bilden einen pädagogisch-didaktische Rahmen bei der Entwicklung von Erfahrungs‑, Analyse‑, Anwendungs- und Reflexionsbereichen der Schule in virtueller Realität. Diesem Rahmen werden fachdidaktische Kompetenzmodelle und Themenaufbereitungen hinzugefügt.
- Lern‑, Arbeits- und Erfahrungsräume werden völlig neu konzipiert. Erkenntnisse aus Architekturpsychologie, pädagogischer Raumforschung, internationaler Schulbauforschung, etc. dienen als Grundlage für eine Neukonstruktion und ‑bewertung des schulischen Lebens- und Arbeitsraums und können damit erstmalig konsequent umgesetzt werden.
- Didaktische Reduktion der fachlichen Themen führt nicht zu einem qualitativen Verlust in der Art, dass Lerngegenstände von den sie tragenden Ideen und Konzepten isoliert werden. Mediale Präsentationen ermöglichen genetisches Verstehen. Auswahlentscheidungen und Vorgehensweisen werden transparent gemacht.
- Die auf Sprache und gedruckten Text vereinseitigten medialen Darstellungsweisen des Papierdruckzeitalters werden diversifiziert. Die oftmals unzureichenden Themen- und Problemrepräsentationen der analogen Medienwelt werden in Erfahrungsszenarien aufgelöst, die dem menschlichen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsvermögen entsprechen: Zustände und Prozesse bleiben auch in medialen Repräsentationen Zustände und Prozesse, werden also als Verharrung und Bewegung dargestellt. Abstraktionsbedingte Komplexitätsverdichtungen werden also beseitigt, wenn sie verstehensverhindernde Barrieren darstellen.
- In den Erfahrungswelten der Schule in virtueller Realität werden menschliches Handeln und gesellschaftliche Strukturen nicht grundsätzlich textlich kodiert. Sie werden medial “humanisiert” bzw. “rehumanisiert”, da Menschen in beweglichen, dichten Bildern und Situationen denken.
- Vertiefte und erweiterte digitale Analysemöglichkeiten werden zur methodischen Arbeit in den Fächern genutzt.
- Differenzierung wird zum Standard: wie in einem Open-World-Adventure führen unterschiedliche Wege zu unterschiedlichen Varianten, Schwerpunkten und Lerngegenständen.
- Individualisierung ist ein Grundprinzip der Schule in virtueller Realität. Das meint zum einen den individuellen Zugang zu Erfahrungs- und Arbeitsbereichen. Dazu gehört die jederzeitige Speicherung und Verfügbarmachung eigener Erfahrungen, Vorgehensweisen, Arbeitsergebnisse. Zum anderen bedeutet Individualisierung die diagnosebasierte Gestaltung individueller Lernwege und Lernstandsprüfungen. Individualisierbar sind aber auch die Bedingungsfelder des Lernens: bauliche Ausstattungssimulationen, Raumdarstellungen, Lichtverhältnisse, Wegführungen etc.
- Eine technikgestützte Diagnose individueller Lernvoraussetzungen, ‑eigenarten und ‑ergebnisse ist die Grundlage zur Entwicklung individueller Lernszenarien.
- Schule in virtueller Realität lebt von der Beteiligung ihrer Nutzer – Partizipation der Lehrenden und Lernenden bei der Gestaltung der Lernräume ist elementarer Bestandteil dieser Schule, weil damit Eigenverantwortung gefördert und Wirksamkeitserfahrung ermöglicht werden.
- Lehrende und Lernende haben Souveränität über ihr Agieren innerhalb der VR-Erfahrungs- und Arbeitsräume.
- Die Schule in virtueller Realität ist eine soziale Schule. Die Lehrenden haben die Möglichkeit ihr berufliches Selbstverständnis zu wandeln, sich von Wissensvermittlern zu Lernbegleitern zu entwickeln. Sie verstehen sich als Experten (fachlich), Moderatoren (didaktisch), Mentoren (sozial) und Weiterlernende (individuell). Lehrende werden von der im digitalen Zeitalter irrigen Fiktion befreit, wonach sie über Themen und ihre Medien exklusiv verfügen, sie verteilen und zugänglich machen. Lernende sind in der Schule in virtueller Realität (Mit-)Gestalter der Themen und Arbeitsaufgaben, ihrer Sozialbeziehungen und ihres raum-zeitlichen Umfelds. Schule in virtueller Realität wird permanent konstruktiv hinterfragt und weiterentwickelt. Neue fachliche Erkenntnisse werden als Updates implementiert .
Die Schule in virtueller Realität ermöglicht also die hochdifferenzierte und individualisierte Förderung in neuen Raum-Zeit-Verhältnissen, auf individuellen Lernwegen, unter Entwicklung von Kompetenzen, auf dem Weg zu “intelligentem Wissen”.
Die Grundlage der Konzeption und Umsetzung von Schule in virtueller Realität ist nicht ein unreflektierter Tech-Hype, sondern die Notwendigkeit von Veränderung auf der Basis vertiefter Erkenntnisse. Dabei müssen Fragen aus unterschiedlichen Disziplinen bedacht und erforscht werden. Einige davon finden sich auf dieser Grafik:
Das Institut für digitales Lernen wird sich diesen Fragen stellen und gemeinsam mit Partnern aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft Schule in virtueller Realität konzipieren und erforschen. Wir freuen uns auf Input und konstruktiver Kritik aus der Community