Vor Kurzem wurde das mBook russlanddeutsche Kulturgeschichte vorgestellt. Es ist auf der Grundlage der bewährten und preisgekrönten mBook-Technologie und ‑Produktionsweise entstanden. Autorinnen und Autoren haben sich zu unterschiedlichen Themenbereichen Gedanken gemacht, haben Konzepte der Kompetenzorientierung und Instruktionspsychologie, der Fachwissenschaft und Medienpädagogik in ihre Arbeit einfließen lassen, um ein anregendes, gehaltvolles, zum eigenständigen Nachdenken und Reflektieren anregendes Buch zu schaffen.
Dabei haben sie auch die Grundprinzipien historischen Denkens im Blick gehabt, zu denen Partialität, Selektivität und Konstruktcharakter gehören. Das mBook russlanddeutsche Kulturgeschichte hat viel Zustimmung erfahren, aber natürlich auch Nachfragen und Kritik.
Auch Herr Dreger hat sich über das Buch Gedanken gemacht. Er findet es „misslungen“. “Die Form der Informationswiedergabe“ habe „eindeutig vor dem Inhalt“ gestanden. Herr Dreger äußert grundsätzliche und einige Detailkritik. Auf beide Bereiche möchte ich eingehen.
Zunächst zum Grundsätzlichen:
Herrn Dregers Sichtweise auf Geschichte scheint sich von den
gegenwärtigen wissenschaftlichen Sichtweisen darauf, was das Fach ist
und wie seine Inhalte entstehen zu unterscheiden. Geschichte ist eben
nicht gleichzusetzen mit der Vergangenheit, sondern sie entsteht durch
Fragen, die gegenwärtige Interessenten an die Vergangenheit stellen.
Diese Fragen entscheiden über die Auswahl von Inhalten, denn die
erhofften Antworten beziehen sich auf gegenwärtige Herausforderungen,
Interessenlagen und Standpunkte. Geschichte ist damit eben keine
Spiegelung der Vergangenheit, sondern eine Konstruktion, die sich auf
Gegenwart und Zukunft bezieht. Aus dem, was an Quellenüberlieferungen
zur Verfügung steht, wählen Geschichtsdenker Material aus, um ihre
Fragen beantworten zu können. Und keineswegs zu allen Fragen ist eine
Überlieferung vorhanden. Geschichte ist mithin von Selektivität und
Partialität geprägt: Unsere Fragen beleuchten, wie der Lichtkegel der
Taschenlampe, einen Ausschnitt der Vergangenheit und suchen nach
Informationen, die es – in Konstruktionen ‚verbaut’ – ermöglichen
sollen, mit heutigen und zukünftigen Herausforderungen umzugehen.
Wenn mBook-Autorinnen und ‑Autoren in den
Dialog- und Transparenztexten der Kapitel (blau hervorgehoben) also
Fragen stellen, so offenbaren sie damit nicht ihre „Ahnungslosigkeit“,
sondern verdeutlichen ihre Auswahlentscheidungen. Sie regen zugleich zum
eigenständigen Fragenstellen an, weil sie ihre Prägungen und
Interessenlagen offenlegen.
In Geschichte geht es nicht um die Suche nach der endgültigen und einzigen Wahrheit, die man dann wie eine Keule im Meinungskampf anderen an den Kopf schleudern oder Lernenden im Unterricht einbläuen könnte. Geschichte ist eine auf anerkannten Regeln des Fachs basierende Konstruktion, die von Menschen gemacht ist. Die Wahrheit des Fachs Geschichte hat der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen Triftigkeit genannt. Es geht also nicht um eine Abbild‑, sondern um eine Diskurstheorie der Wahrheit. Leute müssen von Geschichtsdarstellungen empirisch, normativ und narrativ überzeugt werden. Dieses Verständnis von Geschichte bedeutet, dass es oftmals unterschiedliche Perspektiven und Zugriffe auf Vergangenheit und Geschichte gibt. Und über die Vielfalt an Zugängen und Perspektiven entstehen auch immer wieder Diskussionen. Mit diesen Diskussionen müssen Schülerinnen und Schüler umgehen lernen. Sie sollten sie anstoßen, mit Erkenntnisgewinn führen und abschließend beurteilen können.
Darum bemüht sich das didaktische Konzept des vorliegenden Buchs. Das wird gerade im Kapitel 2 sehr deutlich. Konflikte werden nicht umgangen – aus Angst vor Debatten. Und die im Unterricht so gefürchteten Scheinproblematisierungen, bei denen Lernende immer schon eingangs wissen, was Unterrichtende ‚hören wollen’, die aber ohne Ecken und Kanten daherkommen, werden ganz bewusst vermieden. Und deswegen wird zugespitzt, wird die Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Stereotypen nicht gescheut. Man kann im Unterricht keine Orientierungsprozesse anstoßen, wenn man die schwierigen Seiten des Lebens ausblendet. Alle Menschen erfahren diese schwierigen Seiten, auch Russlanddeutsche. Und gerade Schülerinnen und Schüler erleben doch auf dem Schulhof oder im Wohnviertel Stigmatisierungen, Ausgrenzungen und Gruppenbildungen aller Art. Und meist wird dabei nicht ‚mit dem Florett gefochten’, sondern eben ‚mit dem Säbel’. Es gab und gibt im alltäglichen Zusammenleben das ‚Wir’ und ‚die Anderen’, und mit solchen Zuschreibungen waren und sind ungerechtfertigte Urteile verbunden. Die Mechanismen dahinter können und sollten wir, so meine ich, im Unterricht thematisieren. Wir sollten darüber reden, was Vorurteile sind, wie sie entstehen und wie man mit ihnen umgehen kann. Es geht also gerade nicht darum, „Klischees auf […] Stammtischniveau“ auszubreiten, sondern sie zum Anlass für eigenes Fragenstellen und Antwortenfinden zu nehmen.
Und das genau macht die im Kapitel gestellte Frage, was Stereotypen mit Russlanddeutschen zu tun haben, pausibel. Lernende sollen die mit Geschichte umgehenden Hintergründe von Zuschreibungen und Bewertungen erkennen. Das zweite Kapitel des mBooks russlanddeutsche Kulturgeschichte befasst sich mit solchen Zuschreibungen. Der Autor des Kapitels greift sie ungeschminkt auf und leitet sie in einen Denkprozess, bei dem sich Schülerinnen und Schüler darüber klar werden sollen, wie sie sich selbst definieren, etwa als Bürger dieses Landes oder als Angehörige einer Nation. Auch Nationen fallen nämlich nicht vom Himmel, sondern sie sind Konstruktionen, zu denen sich Menschen bekennen oder nicht. Nationen sind ein „tägliches Plebiszit“, wie Ernest Renan einst sagte.
Deutschland und Russland – diese beiden
Länder mit ihren Kulturen und ihrer Geschichte sind zwei zentrale
Orientierungspole für Russlanddeutsche. Viele Russlanddeutsche sind
mehrsprachig, leben Bestandteile beider Kulturen, haben Freunde hier wie
da. Und folglich werden Deutschland und Russland im Buch thematisiert.
Und wie Russlanddeutsche also Heimat verstehen und wie sie ihre
Identitäten bilden, kann nicht nur für andere Deutsche, sondern auch für
andere, zugewanderte Gruppen in dieser Gesellschaft von Bedeutung sein.
Das mBook für russlanddeutsche Kulturgeschichte soll
eben kein wiederum ausgrenzendes Spezialbuch für nur eine Gruppe sein,
sondern alle Lernenden dazu anregen, ihre Prägungen, Heimatdefinitionen
und Identitäten zu befragen. Dabei können alle Schülerinnen und Schüler
einer Lerngruppe von russlanddeutscher Geschichte profitieren, denn
Russlanddeutsche können Brücken in die deutsche Gesellschaft bauen, weil
sie ob eigener (familiärer) Erfahrungen sensibel für die
Herausforderungen des Hinzukommens und Neuanfangens sind. Das geht “Bülent
oder Fereshda, Yücel oder M´Boko“ genauso etwas an wie Sabine und
Kolja. Dreger fragt: „Inwieweit ist sowas für das Thema
‚Russlanddeutsche Kultur’ relevant?“ Ich meine, dass „sowas“ sogar sehr
relevant ist, denn Kulturen reflektieren nun einmal Heimatbeziehungen
und Identitätsbildungen. Und daher widerspreche ich auch entschieden der
Vermutung Dregers: „Wie es scheint, hier gehen die Autoren nicht davon
aus, dass sie über die Deutschen schreiben.“ Doch, genau das tun die
Autoren!
„Überhaupt
ist gerade die Kultur in der ‚Kulturgeschichte’ zu kurz ausgefallen.“,
schreibt Dreger. Da ist etwas dran. Nur gibt es, wie oben dargelegt,
eben immer Auswahlentscheidungen: Esskultur (Kap. 3.4) und Kleidung (Kap. 3.5), Heimatgefühl (Kap. 3.6) und Lebensgewohnheiten in Dorf, Kirche und Schule (Kap. 5.1, 7.2., 7.3)
werden in Kapiteln direkt angesprochen. Damit fallen manche Aspekte der
Hochkultur kürzer aus oder kommen gar nicht vor, Literatur und Musik
etwa. Gleichwohl gibt es im Book russlanddeutsche Kulturgeschichte auch
Literatur, beispielsweise in Form von Gedichten. Der Schriftsteller Johann Warkentin(1920−2012) etwa findet sich mit seinen Zeilen über die Jahre der beginnenden Spätaussiedlung im Kapitel 6.7. Verwiesen sei auch auf die Galerie über das deutsche Theater in Kasachstan (Kap. 6.5) oder die Förderung der Kultur in den deutschen Rayons (Kap. 6.7).
Und es gibt eben auch immer wieder Inhalte, die
sich mit Deutschen beschäftigen, die nicht als Kolonisten nach Russland
gingen, sondern zum Beispiel als Wissenschaftler. Gerhard Friedrich Müller (1705−1783)
etwa kam als Forschungsreisender nach Russland, war an der Russischen
Akademie der Wissenschaften tätig und gilt heute als einer der Begründer
der Geschichtsschreibung über Sibirien (Kap. 4.4). Müller starb 1783 in Moskau. Er war ein Deutscher in Russland. Wer wollte das bezweifeln?
In einem Schulbuch lassen sich
Themen/Themenbereiche nur selten erschöpfend behandeln. Immer gehen wir
mit Auswahlentscheidungen und Beispielen um. Schulbuchautoren bemühen
sich, Anregungen zu geben und Interesse zu wecken. Sie wollen Lerner
kompetent für eigens Nachfragen und Weiterlesen machen. Man schlage ein
beliebiges Geschichtsschulbuch auf und sehe, was dort zum Beispiel über
Reformation, Dreißigjährigen Krieg oder Absolutismus steht. Auf den
ersten Blick ist es wahrscheinlich immer zu wenig und zu kurz.
Einerseits ist das auch immer unbefriedigend, andererseits geben Autoren
mit modellhaftem Vorführen und der Gestaltung eines roten Fadens auch
die Möglichkeit zum eigenständigen Weiterfragen und Weiterlesen. Im mBook russlanddeutsche Kulturgeschichte steht
eindeutig das Fach Geschichte im Mittelpunkt, Informationen und
Zugriffe anderer Fächer werden jedoch integriert, um fächerverbindendes
oder fachüberschreitendes Arbeiten zu erleichtern.
Wer aber stets nur quantitativ denkt, mehr, und
immer noch mehr und schließlich Totalität im Schulbuch erwartet, der
macht einen Fehler, denn eine ‚vollständige’ Geschichte als Abbild einer
vermeintlich vollständig zugänglichen Vergangenheit gibt es eben nicht
und kann es auch gar nicht geben.
Einige Detailhinweise Dregers über eventuell missverständliche Formulierungen haben wir aufgenommen, beim Einladungsmanifest Kaiserin Katharinas etwa, auch im Kapitel über Bekleidung. Dass keiner der Autoren aber auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, über den Russlanddeutschen „Hohn“ auszugießen, weil sie in der Stalinzeit gezwungen waren, einfache Arbeitskluft (Wattejacken und Stiefel) zu tragen (Kap. 3.5), kann man schon daran erkennen, wie ausführlich das Leid der Russlanddeutschen in der Zeit der Stalindiktatur und des Zweiten Weltkrieges geschildert wird (Kap. 6.2, 6.3, 6.4).
Überdies haben wir mit dem
Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold und Zeitzeugen
eng zusammengearbeitet. Die Galerie zur Kleidung wurde dabei nicht
bemängelt, denn es ist dort eindeutig gesagt, dass die
Kleidung der sog. Trudarmisten, die im Lager leben mussten, erzwungen
und von Mangel geprägt war. Bei zwei Bildunterschriften haben wir diesen
Aspekt jetzt noch einmal deutlich hervorgehoben.
Manche Aufregungen Dregers sind letztlich wenig
nachvollziehbar. Selbstverständlich ist etwa der russisch-deutsche, also
aus Russland stammende und in deutscher Sprache schreibende Autor Wladimir Kaminer kein
russlanddeutscher Autor. Das wird aber auch gar nicht behauptet. Warum
er zitiert wird? Weil er sich markant über Eigenarten von Gruppen und
Stereotypen äußert und dabei Russland und Deutschland immer im Blick
hat. Weil er gut beobachtet und spitz formuliert. Dass ihn der eine oder
andere Russe nicht mag, und der eine oder andere Deutsche auch nicht,
verwundert kaum. Wer aber nicht lachen kann, etwa über manche
‘Gewohnheiten’ des deutschen Kleingartenwesens, wer ironische
Darstellungen nicht nutzen kann, um über sich und sein Leben
nachzudenken, dem mangelt es nicht nur an Souveränität, sondern eben
auch an Reflexionsbereitschaft – die aber ist, wie oben dargelegt, ein
wichtiges Ziel des schulischen und außerschulischen Umgangs mit
Geschichte überhaupt.
Man kann
sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren, dass Dreger auch bewusst
missverstehen will. Er argumentiert auf einem gewissen
Konfrontationsniveau. So etwa, wenn er eine
Formulierung über den Winter in Russland im Zusammenhang mit dem
Vormarsch der Mongolen auf Nowgorod im Jahr 1238
so interpretiert, als bemühte sich der Autor damit, das übliche
Winter-in-Russland-Klischee zu bedienen. Solche Herangehensweisen sind
bedauerlich.
Ich lade dazu ein, konstruktiv zu debattieren. Das mBook russlanddeutsche Kulturgeschichte basiert
auf einem offenen technischen System. Inhalte können also auch geändert
werden. Wer Anregungen geben möchte oder Fehler entdeckt (kein Buch auf
dieser Welt ist frei davon), wer mit den Autoren diskutieren und etwas
über Geschichtsdidaktik erfahren möchte, wer auf das Konzept neugierig
ist oder sich für jene Russlanddeutschen interessiert, die uns in
Interviews Rede und Antwort gestanden haben, der kann jederzeit Kontakt
mit uns aufnehmen. Gemeinsam kann man viele Dinge weiterentwickeln.
Kontakt via Mail (info@institut-fuer-digitales-lernen.de) oder Facebook.
Wer jedoch auf der Grundlage eines überkommenen historischen Positivismus’ eine reine Rechthaberei pflegen will und Autoren keinen Respekt entgegenbringen mag, wer Vorwände für Erregung sucht, statt sich konstruktiv und aufgeschlossen einzubringen, der wird dem (gemeinsamen) Anliegen, nämlich Themen der russlanddeutschen Geschichte in Lernsituationen zu integrieren, letztlich nicht gerecht werden.