verfasst von Florian Sochatzy
Derzeit überschlagen sich die Meldungen zum Thema „digitale Bildung“. Das Nischenthema betrifft in Zeiten flächendeckender Schulschließungen plötzlich alle. So konstatiert etwa die TAZ am 23.03.2020: „Und plötzlich ist es da: das digitale Lernen, die Bildungsrevolution, wie sie Expert:innen seit Jahren fordern. Ausgerechnet ein Virus schafft, was die Kultusminister:innen seit Jahren nur halbherzig anpacken.“
Diese Feststellung ist nur richtig, wenn man unter digitalem Lernen die digitale Reproduktion der analogen Strukturen versteht: das Arbeitsblatt als E-Mailanhang, die Multiple-Choice-Aufgabe in der Lernplattform und die Arbeitsanweisung per Whats-App. Bei allem Verständnis für die gegenwärtige Situation, die LehrerInnen nun ad hoc als Krisenmanager, meist ohne große Vorerfahrung, bewältigen müssen: Es wäre falsch, sich nun freudig auf die Schultern zu klopfen, dass man das mit dem digitalen Lernen nun in einer Woche geschafft hätte und der Wandel nun da sei.
Digitale Bildung zielt eben nicht auf die ständige Reproduktion der Schule des 19. Jahrhunderts, sondern auf die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Es geht dabei auch, aber nicht nur, um die Vorbereitung auf eine zukünftige Arbeitswelt. In erster Linie geht es um die Gestaltung einer sich radikal wandelnden Gesellschaft. Echter Wandel ist ein langfristiges Projekt. Es stellt die Rollen aller Beteiligten in Frage, die in der Mehrheit (wie immer gibt es großartige Ausnahmen) eine stabile Verharrungssituation geschaffen haben.
- Die Kultusbehörden, die oftmals von populär-politischen Wahlkampfversprechen getrieben werden und deren Gestaltungs-Fantasie an der Stelle endet, an der gymnasiale Bildung von 13 auf 12 Jahre gekürzt bzw. von 12 Jahren auf 13 Jahre verlängert wird.
- Die Bildungsindustrie, die in staatlich verregelten Märkten Innovation eher als Gefahr für die Geschäftsmodelle sieht.
- Die Lehrkräfte, die sich in ihre Fächer verkrallen und die Prüfung reproduzierbarer Informations-Bits als zentralen Indikator für eine gesellschaftliche Selektion in arm und reich, oben und unten, mächtig und ohnmächtig halten.
- Die Eltern, deren Bild von Schule fundamental von ihrer eigenen Schulzeit geprägt ist und die glauben, dass die Erfolgsrezepte ihrer eigenen Vergangenheit auch heute und morgen noch gültig sind.
- Die SchülerInnen, die nie etwas anderes als die heutige Schule kennengelernt haben und dadurch natürlich auch nicht in der Lage sind, andere Konzepte von Lernen und Bildung zu denken.
Diese Gesellschaft steht, unabhängig von der derzeitigen Corona-Situation vor umfassenden Herausforderungen: eine vollständige Veränderung der Arbeitswelt verbunden mit dem Ende der genormten Massengesellschaft, die Klima- und Umweltkatastrophe, der Zusammenbruch bestehender Welterklärungsmodelle, der Aufstieg von KI, Biotechnologie, und Robotik, die Krise der liberalen Demokratien, eine weit verbreitete Unsicherheit und Angst vor der Zukunft.
Zur Bewältigung und Steuerung dieser Aufgaben benötigen wir konzentrierte, neugierige, mündige, intrinsisch motivierte, reflexionsstarke, kritische, risikobewusste, zufriedene, versatile, kreative, gestalterische, moralisch handelnde, empathische Menschen mit Werkzeugen zur Welterklärung und Weltgestaltung.
Nur Menschen mit solchen Eigenschaften verstehen, dass Auswahl und Bewertung von Wissen deutlich wichtiger ist als die Anhäufung von Faktenwissen, dass der Erwerb von transferfähigem, intelligentem Wissen dem dummen Prüfungswisssen weit überlegen ist, dass die Fragestellung die Antwort lenkt, dass Wissen eine Konstruktion ist, dass Lernen und Veränderung ein sozialer Prozess ist. Kaum benötigt werden in Zukunft – aber, machen wir uns ehrlich, auch schon heute nicht mehr – Menschen, die auf Anweisung brav ihre Arbeitsblätter mit Wikipedia-Faktenwissen ausfüllen.
Zurück zur derzeitigen Corona-Situation:
Lassen Sie uns alle gemeinsam diese Situation nutzen, um den Wandel ernst zu nehmen. Gerade erleben LehrerInnen, dass die digitalen Tools grundsätzlich funktionieren, und dass Situationen digital bewältigbar sind, die vor kurzem als nahezu unlösbar galten. Nutzen wir die Situation, um erste, aber entscheidende Schritte zu echter digitaler Zukunftsgestaltung zu gehen. Vielleicht kann dann die Krise der Anfang einer neuen Schule sein.
Was man als Lehrkraft in der derzeitigen Situation tun kann, beschreibt unter anderem Philippe Wampfler in seiner Video-Serie DigiFernunterricht.
Zudem bietet der EduCouch-Podcast aktuell Sonderfolgen zum Thema.
Danke für diesen Text – genau so ist es – nur jetzt kommen die Defizite besonders klar zutage. Wir haben ein System, dass zudem nicht zur Demokratie passt. Es steckt sowohl bei der Schulart-Aufteilung wie bei der Lehrerbildung und deren Zuordnung in hierarchische Beamten“Kästchen“ im Ständestaat des 17./18./19. Jahrhundert und so weiter… Eine der Absurditäten: Ein global ausgehandeltes Recht (Inklusion auf Basis der Behindertenrechtskonvention) wird in ein zergliedertes exklusives Schulsystem implementiert – was am Ende mehr schlecht als recht (eben nicht) geht.
Wir haben einen eindeutigen Disconnect zwischen dem Was in Zukunft gebraucht wird und wie Schule aufgebaut ist. Die Schule wie wir sie kennen stammt aus der 2. industriellen Revolution und bildet nicht die Fachkräfte aus, die wir in Zukunft brauchen. Das Ziel sollte sein, Kindern schon die neue Welt mitzugeben und nicht nach der Schule erst mal den Firmen die Aufgaben zu geben die Abgänger auszubilden, damit diese mit Themen wie Coworking, neuen Arbeitsformen, Leadership etc. erst vertraut werden.
Vllt darf ich da auch als Referenz noch die Liste an Fähigkeiten der Zukunft anhängen, da es schön veranschaulicht, dass gut 90% dieser Themen in der Schule nicht adressiert werden.
https://morethandigital.info/23-faehigkeiten-der-zukunft-wichtige-skills-fuer-die-jobs-des-21-jahrhunderts/