Notwendigkeit einer neuen digitalen Bildung Icon; Institut für digitales Lernen

Über das Ende der alten analogen Schule und die Notwendigkeit einer neuen digitalen Bildung

verfasst von Florian Sochatzy und Marcus Ventzke

Die unaufhaltsame Kraft digitaler Veränderung wird alle Lebensbereiche verändern. Sie wird dabei nicht bei den dinglichen und gedanklichen Relationen, Systemen und Kommunikationsformen halt machen, sie wird auch unsere Wahrnehmung von Realität verändern. Zunehmend wird die Wahrnehmung der Welt eine Frage von persönlichen Einstellungen werden, mentalen aber vor allem auch technischen Settings.

Human enhancement, Grafik: Günther Herrler

Digitale Technologien erlauben bereits heute die Umsetzung radikaler Ideen, die zwar bis dato denkbar, aber eben nicht umsetzbar waren. Man denke dabei z.B. an digital erfolgende Simultanübersetzungen von Sprache.

Technologiekonzerne sind heute schon dazu in der Lage, menschliches Zusammenleben neu zu definieren und dadurch tiefgreifende Veränderungen in bis dahin kaum hinterfragten Gegebenheiten zu katalysieren. Digitale Kommunikationssystem erlauben orts- und teilweise auch zeitunabhängiges und frei zu gestaltendes Arbeiten. Selbstgesteuerte Arbeitsrythmen und die Auswahl der Arbeitsumgebung sind durch cloudbasierte Dienste bereits heute Realität und entwickeln sich zu einem selbstverständlichen Standard. Für diese Art von Arbeitswelt werden andere Kompetenzen benötigt als für die Arbeitsverhältnisse einer immer deutlicher verblassenden ‘alten’ Welt.

Ein ausgewähltes Beispiel für Veränderungen soll im Folgenden konsequent in die Zukunft gedacht werden: die Entwicklung von Zugangstechnologien, also Technologien, die uns das Nutzen digitaler Inhalte und Technologien ermöglichen. In einem letzten Schritt wird die Frage nach den daraus folgenden Konsequenzen für schulische Bildung gestellt.

Vom Smartphone Nutzer zum Enhanced Human

Dass wir derzeit das Smartphone als selbstverständliches und unverzichtbares Element unseres Lebens betrachten, ist wohl nur ein erster und und unvollständiger Schritt auf dem Weg in eine veränderte Realitätswahrnehmung.

Die Erfahrung zeigt, dass Menschen sehr schnell und umfassend Technologien adaptieren die praktisch, unterhaltsam und erschwinglich sind. Eine nahezu vollständige Ausstattung der Bevölkerung Smartphones, zumindest in den Industrieländern, ging innerhalb weniger Jahre vonstatten. Und das, obwohl diese Technik hinsichtlich Bildschirmgröße, Akkulaufzeit und Bedienbarkeit immer noch deutliche Defizite aufweist, Defizite die wohl in der nächsten Generation digitaler Zugangs- und Kommunikationstechnologie keine Rolle mehr spielen werden.

Die Datenbrille hat mit dem Google-Glass-(PR-)Misserfolg wohl nur einen kurzen Dämpfer erhalten und wird wiederkommen. Derzeit arbeiten mehrere Hersteller an neuen Datenbrillen, die vorherige Modelle hinsichtlich technischer Potenz, Ästhetik und Massentauglichkeit voraussichtlich deutlich übertreffen werde. Das Ergebnis ist ein Zugangsgerät, das die Beschränkungen menschlicher Wahrnehmung an vielen Stellen aufhebt, diese Wahrnehmung grundlegend verändert und neu definiert. Was bedeutet es für menschliches Verhalten und Wahrnehmung, wenn jederzeit alle optischen Eindrücke (und in einem weiteren Schritt akustischen Signale) verändert werden bzw. weitere und andere Informationen ein- bzw. ausgeblendet werden können? Wir befänden uns dann auf dem Weg hin zu einem radikalen, weil aktiv und bewusst kontrollierbaren Konstruktivismus. Jedes Individuum wird zu einem ‘User’, der seine Wahrnehmung nicht mehr nur durch Fantasie und selektive Wahrnehmung, sondern durch aktive Beeinflussung technischer Einstellungsregler zur Steuerung der Wahrnehmung kontrolliert: ‘Hier ein bisschen mehr Sonne, dort eine Person grundsätzlich ausblenden und stummschalten.’
Die dadurch zudem entstehende grundsätzliche und ständige Zugänglichkeit von Informationen ist in diesem Szenario ein eher konventioneller Gedanke.

Augmented bzw. Virtual Reality Welten werden zugänglich sein, ohne die beschwerlichen Implikationen der ortsgebundenen, analogen Realität: Flüge die zu Jetlags führen, Unterkünfte, die gebucht werden müssen, allgemeine Kosten, die durch Reisen entstehen und vieles mehr entfallen, wenn die Welt zum Menschen reist und nicht umgekehrt.

Und nicht nur Reisen ist möglich, auch die Gestaltung eines neuen und viel interessanteren Ichs in virtuellen Umgebungen, die ganz neue Herausforderungsebenen und Betätigungschancen bieten, wird möglich und wohl auch sehr schnell erstrebenswert. Eine durchaus verlockende Möglichkeit, nicht nur für die, die auf Grund von KI und Robotern ihre Arbeitsplätze verlieren werden.

Von hier aus fällt der nächste gedankliche Schritt nicht mehr sonderlich schwer. Warum sollen sich Menschen Brillen aufsetzen und Audiopods (die unter anderem dazu in der Lage sind, Gespräche in allen Sprachen simultan zu übersetzen) aufsetzen bzw. in die Ohren stecken?

Unsichtbare Retina- und Gehörgangsimplantate sind die konsequente Weiterentwicklung der skizzierten Technik. Der Weg zu einer allgemeinen Akzeptanz von Implantaten bzw. Ersatzteilen dürfte wohl nach den oben beschriebenen Schritten geebnet sein. Der vom Druck der geistigen und körperlichen Selbstoptimierung entstehende “Enhanced Human” (vgl. z.B. Pete Moore, Enhancing Me: The Hope and the Hype of Human Enhancement) also der Mensch mit technischen Erweiterungen wird Realität werden. Diese Art von Mensch wird dazu in der Lage sein, seine Fähigkeiten kognitiv wie physisch deutlich auszuweiten und damit die Beschränkungen von Körper und Geist zu umgehen, wobei diese Optimierungen zunächst nichts mit klassischen Lernprozessen zu tun habe.

Ein Klassenzimmer voller Enhanced Learner?

Die ethischen Implikationen derartiger Entwicklungen sind augenscheinlich. Was aber bedeuten sie für andere Bereiche des Lebens, wie etwa der schulischen Bildung?

Stand heute bereiten wir Kinder und Jugendliche immer noch auf ein Leben in einer vom Denken der Industriezeit geprägten Arbeitswelt vor, die, wenn man auf die Abläufe in modernen Fabrikhallen sieht, schon heute meist nur noch fiktiv ist: Standardisiertes Faktenwissen das in vordefinierten Zeitfenstern auswendig gelernt wird, um vorbestimmte Selektionskriterien zu erfüllen.

Da unverbundene Fakten aber auch gewisse Kulturtechniken und Inhalte des heutigen Bildungskanons, z.B. das Erlernen von Fremdsprachen, ihren Wert als Gesellschafts-Währung auf Grund von technischer Substituierbarkeit immer mehr verlieren werden, muss Schule sich radikaler und fundamentaler verändern, als das jemals seit Einführung der Schulpflicht der Fall war.

Dabei ist die Geschwindigkeit der Veränderung von entscheidender Bedeutung. Digitale Disruption findet exponentiell und nicht mehr linear, sie findet global und nicht mehr lokal statt. Ein abwartendes Zögern in diesem Zusammenhang wird dazu führen, dass ein nahezu uneinholbarer Rückstand entsteht bzw. es zu einer Aufteilung des Bildungswesens in einen fortschrittlichen und ein abgehängten Teil kommt.

Da Algorithmen, KI und Roboter menschliche Arbeit zunächst an allen Stellen ersetzen werden, die in Ablaufplänen manifestierbar sind, wird es in kurzer Zeit nur noch Stellen geben, die kreative, kommunikative, kritische und soziale Interaktion erfordern — alles Kompetenzen, die wir derzeit an unseren Schulen zu wenig fördern. Sie müssen in den Mittelpunkt aller pädagogischen und didaktischen Überlegungen gestellt werden. Stattdessen wird sehr oft noch Faktenakkumulation in fest definierten Prüfungsformen und ‑zielen ohne Kommunikationsmöglichkeiten und mit einem Stift auf Papier abverlangt. In Zeiten der digitalen Revolution ein Vorgang, der hohes Frustrationspotential für alle Beteiligten innehält.

Und jetzt?

Schule muss sich zunächst gedanklich verändern: Weg vom Selbstverständnis als hierarchisch organisierte und kommunizierende Behörde mit einem festgefügten Fächerkanon, der sich im Wesentlichen auf das Wissen der Vergangenheit bezieht und dieses über weite Strecken auch nicht verlebendigen kann.

Schule muss sich zudem räumlich verändern: weg von den Einheitsgrößen und Orten.

Schule muss sich technisch verändern: weg von zentralisierten Verkündungsmedien.

Schule muss sich personell verändern: weg vom Faktenpauker hin zum Wissensmoderator.

Und Schule muss sich medial verändern: Weg vom geschriebenen Text als alleinseligmachendes Element.

Wenn man die Verbindungsgeschwindigkeiten von Schule kennt, kann man diese Forderungen als völlig unrealistisch abtun; vielleicht ist aber jetzt gerade der Zeitpunkt der ein solch massives und grundsätzliches Veränderungspaket möglich macht. Der von der digitalen Revolution ausgehende Veränderungsdruck steigt, und schon bald wird Technik und die damit verbundenen Erweiterungen von Wahrnehmung und Fähigkeiten ein selbstverständlicher und integraler Teil unserer Selbst werden. Spätestens dann wird dem Letzten klar werden, dass unser derzeitiges Bildungssystem ein Anachronismus in Kreidestaub ist.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert